Wenn Träume Wirklichkeit werden...

Eine Woche ist es nun her. Mir wurden zwei Eizellen eingesetzt und ich muss mich arg beherrschen nicht andauernd unbewusst über meinen Bauch zu streicheln, während ich neben meinem Chef im Flieger sitze. Trotzdem schweifen meine Gedanken immer wieder ab. Ob es wohl geklappt hat? Fühlt sich schon was anders an? Merke ich ein Ziehen, oder sind meine Brüste bereits gewachsen? Nein, nichts. Aufregung, ein Kribbeln im Bauch wie beim ersten Kuss, doch kein Anzeichen, das wirklich darauf schließen ließe, ob wir nach einem ziemlich langen Weg bereits nach dem ersten Versuch schwanger sind. Mein Chef blättert eine Manager Zeitschrift durch und sieht gerade nicht konversationsbegeistert aus, demnach schließe ich die Augen.

- Ich sehe mich in einem Abstand von vielleicht 5 Metern vor mir her gehen. Ich sehe anders aus, älter, aber es greift die allgemeine Gewissheit eines Traums, dass man sich dennoch erkennt. Links und rechts im Arm trage ich eine Einkaufstasche. Ein großes helles Haus erwartet mich und ich beobachte gebannt, wie mein Ich den Schlüssel dafür hat und aufschließt. Witziger Weise ist dieser Traum ein Stummfilm. Ich höre meine eigenen Fragen, die mir durch den Kopf gehen: Wann ist das? Wo ist das? Bin ich das wirklich? Ist das mein zu Hause? Doch außerhalb dieses Monologs ohne Auflösung ist es still. Ich gehe mir also nach, nachdem Ich meine Schuhe ausgezogen habe und folge mir in eine Küche. Also wenn das meine Küche ist, denke ich, habe ich alles richtig gemacht. Es ist die perfekte Mischung aus zu Hause und kulinarischem Mittelpunkt meines Lebens. Es ist alles hell, sauber, es gibt ein großes Kräutergewächshaus, einen Gasherd, ein großes Ledersofa, eine Ecke mit Kochbüchern und einen riesigen Esstisch. Außerdem einen Küchentresen an dem ein junges Mädchen steht. Vielleicht 15 oder 16 Jahre alt. An ihrem Anblick bleibt mein Traum-Ich direkt hängen. Sie hat dunkelblondes langes Haar, an dem mein Ich nicht vorbei gehen kann ohne selig drüber zu streichen und den Duft einzuatmen – Stummfilm mit Gerüchen, verrückter Verstand – der mir unbekannt und doch total vertraut ist. Ein Junge im gleichen Alter betritt den Raum und geht selbstbewusst zum Kühlschrank. Er ist attraktiv, hat mittellanges hellbraunes Haar, sanfte grüne Augen und betritt die Szene ebenso schnell wie er kam, allerdings nicht ohne meinem Ich einen Kuss auf die Wange zu drücken, während es sich daran macht die Einkäufe zu verstauen. Alles in diesem Hier und Jetzt fühlt sich gut an. Richtig. Nach zu Hause.

„Ini?“, mein Chef berührt mich sachte an der Schulter. Etwas verdattert werde ich wach und kann das Bild dieser Küchenszenerie nur schwer abstreifen. Am liebsten würde ich direkt dahin zurück. „Du hast geträumt“, sagt er und ich bin kurz schockiert. Habe ich irgendwas Doofes im Traum gesagt? Schon wieder geht meine Hand unbewusst zu meinem Bauch. Etwas über mögliche Kinder? Über Zwillinge? Einen Jungen und ein Mädchen? „Zumindest hast du ziemlich glücklich ausgesehen. Schien also was Gutes zu sein“, sagt er und lächelt mich an.

Eine Woche später sitze ich allein in meinem Büro. Die Tür habe ich geschlossen und das Schild für Telefonkonferenz außen drangehängt. Dann wähle ich die Nummer des Kinderwunschzentrums. Es klingelt und ich denke wieder an den Traum und die möglichen Kinder. Unsere Familie. Das ganz große Glück im kleinen Alltag. Als endlich jemand abnimmt, erschrecke ich mich dermaßen, dass ich fast den Hörer fallen lasse. Ich frage nach den Ergebnissen des Bluttests und man bittet mich einen Moment zu warten. „Frau M.?“, fragt mich eine neue Stimme. „Ja“, antworte ich zögerlich. „Schön, dass wir uns hören, ich habe Ihnen heute Blut abgenommen.“ Ich nicke. Vermutlich ahnt sie das, denn sie spricht einfach weiter. „Deshalb freue ich mich auch, Ihnen sagen zu können, dass Sie wirklich schwanger sind.“ Ich schlage die Hand vor den Mund, dabei ist niemand da, vor dem ich es verheimlichen müsste. Mir entfleucht ein ziemlich erleichtertes Seufzen und dann rinnen mir einfach Tränen über die Wangen, weil ich so glücklich bin.

Nach weiteren zwei Wochen schauen wir und die behandelnde Ärztin gebannt auf den Ultraschall-Monitor. Sie strahlt schon, während wir noch versuchen uns auf dem schwarz-weißen-Rauschen zurechtzufinden. „Herzlichen Glückwunsch! Da schlägt das Herz ihres Babys“, eröffnet sie uns freudig. Ich drücke Alfis Hand und er meine. Wir sind überglücklich, auch wenn ich merke, dass mein Traum eben doch nur ein Traum gewesen zu sein scheint. Keine Zwillinge. Dafür ein wundervoller Tilli.

Als wir vor vier Wochen nach der Geburt der Zwillinge im Krankenhauszimmer darauf warten, dass wir den Entlassungsbrief erhalten, liegt Frida bei Alfi im Arm, und Janosch bei mir. „Wenn dein 20-jähriges Ich dich jetzt sehen könnte“, sinniert Alfi, „was glaubst du, würde es dann denken?“ „Mein 20-jähriges Ich? Da kannten wir uns ja noch nicht mal“, überlege ich. „Na und?“ „Da muss ich echt mal überlegen“, sage ich und überlege dann laut. „Mit 20 war ich gerade mal mit dem Abi fertig und noch mitten in der Ausbildung und mit meiner damaligen großen Liebe zusammen.“ Alfi verdreht die Augen, ich schweife zu sehr ab. „Ok, schon gut. Ich würde mich vermutlich fragen, wer du bist. Vielleicht wäre ich schlau genug unsere Eheringe zu bemerken. Vielleicht wäre das aber auch alles gleichgültig.“ „Wie meinst du das?“ „Wenn ich sehen könnte wie glücklich du und ich aussehen, jetzt und hier in diesem Moment, dann ist vielleicht alles was uns bis dahin gebracht hat egal. Vielleicht wäre ich dann wegen vieler Dinge viel entspannter gewesen, hätte ich gewusst, dass es mich letzten Endes hierherführt und sei es nur für diesen Moment.“  Und da durchfährt sie mich, die Erinnerung an den Traum mit den Zwillingen. Der perfekte Moment. Das Gefühl von Sicherheit. Dieses Detail eines möglichen ganzen Lebens, dass reicht um mir die Gewissheit zu geben, dass es nur Entscheidungen gibt und nichts zu bereuen. 

Heute ist meine Familie vollständig. Die Kinder, von denen ich damals nur träumen konnte, haben Tilli, Alfi und mich ergänzt. Sie haben den Platz eingenommen, der ihnen schon immer vorbehalten war. Ab jetzt werden sie ihn mit allem füllen, was sie mit sich bringen. Und es ist wie ein lautes Schwirren hunderter Schmetterlinge in meinem Bauch, wenn ich mir die Momente in Erinnerung rufe, die der Alltag seit Kurzem ganz unvermittelt preisgibt.

Vorgestern sehe ich, wie Alfi den unruhigen Janosch aus dem Bett holt, während Tilli am Abendbrotstisch, die zusammenhangslose Zahnreihe putzt und das lauthals kommentiert. Sie kommen zusammen in die Küche und tanzen für Tilli ein Vater-Sohn-Tänzchen. Total neben dem Takt, mit falschem Songtext und einem Tilli, der sofort die Zahnbürste in die Luft streckt und einen begleitenden Stuhltanz hinlegt. 

Gestern höre ich zu, wie Alfi im Nachbarzimmer Tilli „Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab?“ vorliest, während ich Frida den dritten Body des Tages anziehe, nachdem sie mich mal wieder beim Wickeln ausgetrickst und im einzig möglichen Sekundenbruchteil des Windelwechselns, sich und die komplette Unterlage nassgemacht hat. Sie stimmt einen ziemlichen Protestsong, ob der unangenehmen Nässe und Kälte, an, bis ich sie warm verpackt habe und fest an mich nehme, um diesen noch unbekannten und doch so vertrauten Duft bis in meine letzte Lungenblase aufzunehmen. Janosch liegt bereits selig grinsend im Milchkoma und ich höre Alfi sagen: „Bis zum Mond, das ist wirklich sehr weit.“

Heute liegen wir alle bis auf Tilli, der schon den Schlaf der Gerechten schläft, auf der Couch. Der Hund schnarcht, Janosch trinkt und Frida liegt auf Alfis Schoß in einem großen Sofakissen. Er greift nach meiner Hand und wir drücken uns im stillen Einvernehmen, dass das einer dieser perfekten Momente ist, selbst wenn Tilli gleich weinen, Janosch mit Blähungen zu kämpfen oder Frida mal wieder das Zuviel an Milchration über Alfi ergießen wird. Weil das alles so kommen sollte. Diese Kinder. In dieser Reihenfolge. Um jetzt hier gemeinsam erschöpft, aber mit randvollen Glücksherzen zu sitzen. 

Eure Ini