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„Ich hätte es wegmachen lassen.“ - Welt-Down-Syndrom-Tag 2018

Es ist ein Freitag. Tilli geht heute nicht in die Kita, damit wir dieses Treffen realisieren können. Ein Treffen, bei dem ich noch nicht richtig weiß, ob ich dafür gewappnet bin. Tilli stresst der Ausflug nicht. Wir treffen uns in der Physiotherapie-Praxis, in der unsere beiden X-Men in Behandlung sind. Für die Jungs eine bunte Abwechslung mal nur zu spielen, während die Mamas sich kennen lernen und austauschen können.

Wir kommen zwar ziemlich pünktlich, sind aber dennoch die Ersten. Tilli wird direkt von seiner Therapeutin übernommen, winkt der Empfangsdame zu, bei der er manchmal mit am großen Terminbuch sitzen darf, während ich mich anziehe und stürmt, nachdem er von seinem Winteroutfit befreit ist, die Praxis.

Wir warten und Tilli probiert mit Begeisterung alle Spielsachen aus, die sonst eher einen therapeutischen Zweck haben. Fünf Minuten später öffnet sich die Tür und eine hübsche junge Frau, vielleicht Ende 20, kommt mit dem kleinen Jungen, der ein halbes Jahr jünger ist als Tillmann durch die Tür. Sie erinnert mich kurz an das weiße Kaninchen von Alice, dass in Hektik zu spät kommt, weil es ja weiß, dass es immer zu spät kommt.

Ich strahle sie an, genau wie Tilli. Der kleine Junge strahlt zurück, klammert sich aber sofort an seine Mama. „Entschuldigung, er ist heut sehr anhänglich, weil er kränkelt.“ Es brauchte keine Entschuldigung und ich nicke einfach verständnisvoll. Nachdem beide angekommen sind, krabbelt der Kleine munter drauf los und macht trotz dessen, dass ich weiß, dass er bereits eine große Herz-OP hinter sich hat, einen wirklich mobilen Eindruck. „Na du bist ja flott, kleine Krabbe!“, sage ich und merke wie er mein Herz in nur 5 Minuten erobert hat. „Naja, geht so“, entgegnet mir die Mama da resigniert. Ich schaue ihr ins Gesicht und erinnere mich, weshalb ich heute hier bin. Wegen dieses in Schieflage geratenen Lächelns, weil hier eine Mama vor mir sitzt, die Wut hat und Angst. Denn so sollte das doch alles nicht laufen. 

Ich fange an und erzähle ihr unsere Geschichte, sehe wie sie fast körperlich zusammenzuckt, wenn ich das Wort normal in Zusammenhang mit unseren Kindern gebrauche und bekomme Kommentare wie: „Das nehmt ihr anscheinend wesentlich leichter. Wir können das nicht.“ Deshalb verknappe ich unsere Geschichte, sie fragt nach was Tillmann bereits alles kann und es drängt sich der Gedanke auf, dass selbst Tilli, obwohl er ja auch ein Downie ist, zumindest der bessere von beiden sei. Selbst der Verweis darauf, dass auch bei uns Meilensteine lange auf sich warten ließen, dass wir viel Geduld aufbringen müssen, gilt nichts. Es erscheint mir fast wie eine gespaltene Persönlichkeit, wie sie den Kleinen dennoch auf den Arm nimmt und kuschelt. 

Dann erzählt sie. Davon, dass dieses Kind zum idealen Zeitpunkt mit dem richtigen Mann an ihrer Seite kommt, dass sie sich über Pränataldiagnostik gar keinen großen Kopf gemacht hat, weil die Schwangerschaft so absolut traumhaft verlief, dass es nur ein mögliches Happy End zu geben schien: Das perfekte Kind. „Was, wenn du es gewusst hättest?“, frage ich. Die Antwort ist eben so kurz wie ehrlich: „Ich hätte es wegmachen lassen.“ Mit Blick auf den kleinen Mann, den sie währenddessen auf und ab trägt, muss ich schlucken. Sie selbst auch. Sanft berühre ich sie am Arm: „Das ist ok.“, sage ich und meine es auch so. Es steht mir nicht zu, die Entscheidungen anderer aus einem gänzlich anderen Kontext heraus zu verurteilen. Ihre Augen werden kurz glasig, dann fasst sie sich wieder. „Ich wollte kein behindertes Kind. Keiner von uns. Nach der Geburt fragte mein Mann auch direkt, warum das Leben so ein Arschloch zu uns ist. Ich meine, womit haben wir das verdient? Und ich möchte jetzt nicht hören, dass besondere Kinder zu besonderen Eltern kommen.“ Ich muss schmunzeln und schaue auf Tilli der genussvoll seine Mittagsmahlzeit in sich reinspachtelt. „Den Satz konnte ich auch nie leiden.“ Daraufhin lächelt sie, doch das verschwindet schnell wieder hinter der großen Enttäuschung, dass ihr Leben vorbei sei. 

„Was ist das schlimmste für dich?“, frage ich sie. „Der Vergleich. Normale Kinder normaler Eltern zu sehen. Zu erkennen, dass mein Kind das alles nicht kann und nie richtig können wird.“ „Moment mal, du weißt aber schon, dass wir größtenteils von Entwicklungsverzögerung ausgehen müssen, nicht von absoluter Unfähigkeit, oder?“ Sie erscheint mir kurz unsicher. Und ich merke, dass sie kein Bild davon hat, wie das Leben eines Menschen mit Down-Syndrom heute aussehen kann. Sie will es auch nicht sehen, sagt sie und mir dämmert langsam, dass ihr Unwissen, die Angst und Wut nur zusätzlich schüren. Sie matert sich mit der Vorstellung einen Totalausfall zu Hause zu haben, nie wieder ihr Leben genießen zu können und ganz weit von der heilen Welt ihrer Vorstellung entfernt zu sein. „Was mache ich denn, wenn er mit 18 nicht ausziehen, arbeiten und Autofahren kann? Setze ich ihn und mich dann ins Auto und wir fahren zusammen vor eine Wand?“ Es schmerzt. Mich genauso wie sie. Ich habe das Bedürfnis Tillmann die Ohren zuzuhalten, doch der schert sich nicht drum und lässt sich von unserer Therapeutin unter großer Anstrengung den Schlafanzug anziehen, weil die Stunde gleich um ist und er dann ab ins Mittagsschläfchen verschwindet. Als ich mich der Mama mit dem kleinen auf dem Arm wieder zuwende, sehe ich erst, dass sie offenbar auf eine sinnvolle Antwort wartet. Ich atme tief durch. „Weißt du, selbst wenn dein Kind mit einem Chromosom weniger geboren worden wäre, hätte es ein Arschlochkind werden können, es könnte sich von dir abwenden, Alkoholiker, Junkie oder einfach nur ein Taugenichts werden. Wenn du aber dein Kind nicht liebst, dann schlage ich dir folgendes vor: du kommst jetzt mit uns raus, schnallst seinen Autositz in meinen Wagen und ich nehme ihn mit. Einfach so und von Herzen gern.“ Sie hält meinem Blick stand und drückt den Kleinen fast unmerklich ein wenig fester an sich. „Nee“, sie lacht kurz irritiert auf, ob dieses unmoralischen Angebots, um dann energisch den Kopf zu schütteln und ihn auf den Kopf zu küssen. „Das geht doch nicht.“ „Klar geht das.“ Sie wird ernst und sagt: „Nein, er ist doch mein Kind. Ich liebe ihn ja trotzdem. Das würde doch keiner machen.“ Ich nicke und bin mir sicher, dass sie und er nie gemeinsam vor eine Wand fahren werden. Mit der Diagnose würde sie das allerdings nur allzu gern tun.

Ich selbst bin das Kind einer Mutter, für die ich nie GENAU RICHTIG war. Wir unterscheiden uns in Denkweisen, Interessen und Emotionen so grundlegend, dass sie mich nie wirklich greifen konnte. Ich war nie gut genug. Mich zu verstehen und auch noch dafür zu lieben?  Als Kind und selbst als Erwachsene Frau, fühlt es sich bis heute nicht so an, dass ich einfach gut war, wie ich war. Selbst dann nicht, wenn ich wirklich richtig gut in etwas war, dann war die Tochter von XY darin noch besser gewesen. Mit etwa 10 Jahren war ich mittags für ein bis zwei Stunden allein in meinem Elternhaus, wenn meine Mutter ihrer wieder aufgenommenen Teilzeitstelle nachging und meine Schwester erst später aus der Schule kam. Systematisch habe ich die Zeit genutzt und das Haus in jedem Winkel auf den Kopf gestellt. Mit an wahnhaft grenzender Akribie habe ich danach gesucht, weshalb das so ist. Ich habe gehofft einen Nachweis zu finden, dass ich adoptiert sei, dass ich hier eben nicht GENAU RICHTIG war. Es gab keinen. Bis heute nicht. Im Gegenteil. Ich habe Kinderfotos meiner Mutter gefunden, auf denen sie im gleichen Alter exakt so aussieht wie ich. Und ich weiß noch, wie ich irgendwann aufgab, weinend, erschöpft und gehofft habe, dass ich, wenn ich dem allen irgendwann entfliehe, die Stelle finde an die ich gehöre. Wo ich hineinpasse wie der Schlüssel ins Schloss.

Gefunden habe ich sie in einem Mann, mit dem ich nicht nur herzhaft Lachen darf um 5 Minuten drauf in die Zankerei schlechthin auszuarten, sondern nachher meist glücklicher bin als davor. In einem verrückten Hund, vielen außergewöhnlichen Jobs, besonderen Freundschaften und in Tillmann. Darin, dass ich an ihm nichts Falsches entdecken kann und auch an mir ihm und meiner Familie gegenüber nicht. Wir sind gut wie wir sind. Daran ändert kein Chromosom der Welt etwas und keine Hürde, kein Antrag, keine Wartezeit auf Entwicklungsschritte. Wir sind GENAU RICHTIG.

Eure Ini