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Ohne Worte - Vom Suchen und Finden der Sprache #2

Umso mehr ich ihn beobachte, erkenne ich, dass Tilli Unterschiede in seinen Bewegungen macht und uns genau beobachtet. Lieder mit entsprechenden Gesten beherrscht er erstaunlich schnell. Wahrscheinlich fiel es mir deshalb leicht mich für die Gebärden-unterstützte Kommunikation, kurz GuK genannt, zu entscheiden. Wir bestellten die GuK-Karten, um die Gebärden zu lernen, suchten uns einen Logopäden mit entsprechender Ausbildung, um uns und Tilli anleiten zu lassen und ich arbeite mich parallel noch immer in das Frühförderprogramm „Kleine Schritte“ ein. Liste ich das hier auf, ist das lange nicht alles was ich bereits in Erwägung gezogen habe oder noch anstrebe, und es erschreckt mich selbst. Ein Erfolg war das bisher aber alles nicht. Dachte ich zumindest.

Unser Logopäde, sicherlich kompetent, nett und wirklich hilfsbereit, ist für mich und Tilli nach eingehender Prüfung in 10 Sitzungen einfach nicht der richtige. Es kommt in keiner der Einheiten zu einer wirklichen Lernsituation. Wie früher bei anstrengenden Phasen in der Physio entgeht Tilli dem ganzen nämlich mit Vermeidungstaktiken. Das trifft nicht auf Regeln seitens des Therapeuten, also fühlt er sich so narrenfrei, dass ich ihn regulieren muss, damit er nicht die Logopädie Praxis zu Kleinholz verarbeitet oder ständig eine neue Ablenkung findet. Das strengt an. Mich, Tilli und vermutlich auch unseren Logopäden. Der lässt sich aber nichts anmerken, plädiert auf abwarten und verweist darauf, dass Tilli erst zwei Jahre alt sei. Mit dem Frühförderprogramm schaffe ich zwar immer wieder kleine Meilensteine, doch fällt das dran bleiben zeitlich schwer. Noch dazu ist gerade das Thema Sprache darin ein Stück weit entmutigend, weil es so unfassbar umfangreich ist. Ich habe das Gefühl an allen Ecken und Enden unzulänglich zu sein. Mehr als ich gebe, kann ich nur nicht ermöglichen. Das alles macht mich unsicher und ich hinterfrage mich, ob ich nicht zu viel erwarte. Ich bin kurz davor mein Engagement über Bord zu werfen. Wäre Tilli nicht Tilli. 

Seit einem halben Jahr zeige ich ihm Gebärden, wann immer ich sie sinnvoll mit dem Erlebten verknüpfen kann. Meistens beim Essen, Spielen oder dem Anschauen von Büchern. Ansonsten rede ich mit ihm so, wie ich es vermutlich auch später mit Janosch und Frida tun werde. Einfach weil ich voraussetze, dass er mich versteht. 

So auch, als wir eines Abends nach dem Essen den Tisch abräumen und Tilli sich eine leere Packung vom Tisch greift. „Lass das ruhig liegen, kleiner Mann, das ist Müll.“ Ich registriere noch, wie du mich nachdenklich anschaust, bevor du die Packung wieder hinlegst. Dann nimmst du sie erneut in die Hand, gehst um den Tisch herum, hebst den Deckel der grauen Mülltonne hoch und wirfst sie hinein. Alfi und ich schauen dich sprachlos an. Du packst den Deckel wieder auf die Tonne und sichtlich stolz klatschst du dir deinen altbekannten Eigenapplaus. Wir haben dich das noch nie machen lassen, haben dir das Wort Müll nicht explizit erklärt, haben dir nicht aufgetragen die Packung in die Tonne zu werfen oder darauf gezeigt. Doch wir haben mit dir geklatscht, aus voller Begeisterung, weil du das unheimlich toll gemacht hast. Und nach unfassbar langer Zeit erkenne ich in deinem Klatschen etwas, das mir so nie wirklich aufgefallen ist. Es ist dein Wort für „Richtig“ verknüpft mit dem laut „Aaaaye“. Die folgenden Tage achte ich genauer auf dich. Und plötzlich sehe ich sie, die verzögerten und manchmal nur sehr undeutlich ausgeführten Gesten. Meist nicht beim Üben, sondern wenn sie dir in den Kopf kommen. Das einzige was du total gerne übst, ist die Gebärde für den Menschen, den du über alles liebst. Manchmal klatschst du noch mit der ganzen Hand gegen dein Kinn. Du bemühst dich aber sichtlich es mir gleichzutun und zwei Finger zu nutzen, während deine Lippen sich immer besser an den Klang von „p-p“ gewöhnen. Kommt Alfi nach Hause und ich frage dich, wer da kommt, dann lachst du kurz dein niedliches Lachen in dich hinein als wolltest du sagen: „Man, Mama, ist doch glasklar!“, bevor du dein erstes deutliches gebärdenunterstütztes Wort hervorbringst: „Pa-Pa!“ Über kein Wort von dir wäre ich glücklicher gewesen, zeigt es doch, wie sehr du dich freust ihm das von ganzem Herzen zu sagen.

Die Krux an Gebärden für Kinder ist, dass es sehr umstritten ist, ob sie hilfreich sind oder vom eigentlichen Worterwerb abhalten. Denn wozu sprechen, wenn ich etwas gebärden kann? Das klingt für mich erschreckend nachvollziehbar. Doch es ist wie mit allem bei Tilli: er ist derjenige, der ein anderes Tempo hat, der Hilfen braucht und sie dankbar anzuwenden vermag. Also werfe ich nicht mein Engagement, sondern unseren Logopäden über Bord und werde neu suchen. Ich fokussiere mich auf das, was ich im Alltag wirklich leisten kann und verwende seitdem in etwa 20 Gebärden kontinuierlich. Auto (fahren), Musik, nochmal, stopp, weg, Bitte, Danke, Papa, Mama, ich, du, bauen, dort/hier, trinken, Joghurt, Gabel, Ball, lieb, verboten!, aua. Darüber hinaus üben wir Tillis Körperteile zu benennen. Er findet erfolgreich Nase und Mund. Die Ohren findet er nur, wenn wir sie vorher berühren, seinen Bauch hingegen, kann er voller Stolz vorstrecken und zeigen. Die Kita hat ebenfalls ein Bilderbuch mit wichtigen Gebärdenkarten, die nicht nur Tilli sondern auch seine Erzieher und Freunde lernen können. Ob sie es wirklich tun, weiß ich nicht, doch ich hoffe es. 

Ich wünsche dir so sehr, dass wir dich bald besser verstehen. Dass Sprache nicht nur nutzloses Kauderwelsch für dich ist, sondern es dir ermöglicht noch mehr du zu sein. Ich wünsche dir, dass wir eine Sprache für dich finden, die dich glücklich macht. Dass du uns wann immer du willst, was immer du willst, mitteilen kannst. Dass alle die dir wichtig sind, oder dich unterstützen wollen, hören was du sagst, sehen was du willst und dir so viel Geduld, Liebe und Sprache entgegenbringen, dass es dich für einen kurzen seligen Moment einfach sprachlos macht.



Eure Ini