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Ich habe mein Kind schreien lassen

Diesen Artikel zu schreiben, fällt mir unendlich schwer. Denn dazu muss ich genau hinsehen und zwar dorthin, wo das Leben nicht nur schön ist.

Du sollst dein Kind nicht schreien lassen. Eins der Gebote einer neuen Ära von Eltern. Eltern, die sich an den Bedürfnissen ihrer Kinder orientieren, sie ernst nehmen und dadurch hoffen Menschen zu formen, die ebenso selbstsicher wie sozial sind und eine starke innere Bindung mit einem unerschütterlichen Urvertrauen fühlen können. 

Ich habe mein Kind schreien lassen.

Steht dieser Satz allein, sagt er wenig darüber aus, wie ich zu diesem Thema stehe. Dennoch impliziert er, dass das falsch sein muss. Man lässt sein Kind nicht schreien. Es gibt zahlreiche Studien zu damit einhergehenden Symptomen körperlicher und seelischer Art. Und ein glückliches Kind schreit am besten nie. 

Ich habe mein Kind schreien lassen.

Niemand weiß in welcher Situation, wie lange, wie oft, weshalb. Das ist unvorstellbar!

Ich habe mein Kind schreien lassen, weil ich es nicht beruhigen konnte.

Wahrheiten müssen wir dreimal sagen, erfahren, erleben, damit wir sie im Kopf behalten und sie ansatzweise glauben können. Ob wir sie hören wollen oder nicht. Und dann müssen wir sie annehmen, mit allem was zu ihnen gehört.

WIE ES WAR

Als Mutter von Zwillingen jonglierst du täglich mit den Bedürfnissen zweier vollwertiger individueller Menschen. Oft fällt dabei ein Bedürfnis zu Boden und du bist unheimlich bestrebt es sofort wieder aufzunehmen. Die Dinge wieder in Fluss zu bringen und alles am Laufen zu halten. Denn der Erwartungsdruck an gute Mütter ist immens hoch. Doch manchmal kommt es eben anders.

Janosch und Frida kamen nach einer turbulenten Schwangerschaft vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin gesund zur Welt. Bis sie fünf Wochen alt wurden, lief alles reibungslos. Von einem Tag auf den anderen, wurde Janosch abends unruhig. Das Einschlafen wurde ihm schier unmöglich. Frida gesellte sich einige Tage später dazu, so dass wir uns beim Umhertragen, Beruhigen und Vorsingen nicht abwechseln konnten, da der jeweils andere schon jemand umhertrug, beruhigte und besang. Einige Tage machst du das voller Inbrunst. Nach mehr als einer Woche schleicht sich ein entnervtes Gefühl ein. Ich stillte die beiden voll und bekam wenig Schlaf. Es forderte mich körperlich ebenso sehr wie mental.

Wir retteten uns in den erlösenden Gedanken, dass Janosch, Frida und wir es vermutlich nach der 12. Lebenswoche, wie bei abendlichen Unruhen üblich, geschafft haben werden. Wir mussten einfach nur durchhalten. Ich begann allerdings an mir zu zweifeln. Mache ich das alles richtig? Was haben wir uns dabei gedacht zu glauben, das schaffen zu können? Wieso kriege ich das nicht besser hin? Mit den Zweifeln kam zuerst die Traurigkeit, dann das Gefühl machtlos zu sein, und schließlich die Wut. Auf mich. Auf abendliche Unruhe im Allgemeinen. Auf die meiner Kinder im Besonderen. Ich war so leer, so erschöpft, traurig und wütend, dass ich die Kinder, die ich abwechselnd wiegte, auf Knien anbetteln wollte, wohlwissend, dass sie es nicht absichtlich machten, geschweige denn es verstünden. 

Zeit wurde relativ. Zwei Minuten Schreien konnten ebenso gut eine Stunde sein. Während alle Mütter um mich herum die Zeit gern anhalten wollten, war ich dankbar für jede Sekunde, die ruhig verging. Es gab Tage, an denen fühlte ich mich wie von Sinnen. Manchmal war das Schreiben der schönen Momente auf Instagram, die einzige Möglichkeit innezuhalten und nicht durchzudrehen. Und davor hatte ich Angst. Vor mir selbst. Was wenn ich das nicht packe? Wir haben keine Familie in der Nähe und auch Freunde sind in ihren Alltag eingebunden oder wohnen weit weg. Ich fühlte mich unendlich allein, dabei sind wir tagsüber zu dritt.  

Nach 16 Wochen hatten wir das abendliche Dilemma überstanden. Trotzdem blieb es anstrengend. Gefühlt begleitete mich das Weinen der Kinder durch den Tag. Nahm ich ein Kind auf, weinte das andere. Manchmal schlauchte mich dieser Geräuschpegel so sehr, dass ich nichts zusätzliches mehr ertrug. Ich konnte kein Radio hören, fernsehen nervte mich. Ich sang kaum noch für die Kinder, das Klavier war bereits so lange schon zu, dass ich nicht mal weiß, ob es noch funktioniert und zeitweilig schien Tilli mehr daran interessiert mit mir ins Gespräch zu kommen als andersherum. Ich antwortete auf Fragen nur noch mit `hm´ oder ´mh-mh´. Mit Alfi tauschte ich nur das Nötigste aus, sollte er den „Fehler“ begehen, mir bei meinen wenigen Aussagen nicht richtig zugehört zu haben, fuhr ich aus der Haut. Manchmal schrie auch ich. Oft weinte ich. Bis ich zu guter Letzt nur noch schwieg. Alles in allem fühlte ich mich hilflos. An manchen Tagen weniger, an anderen mehr. 

Dann bekam Janosch eines Tages überraschend Fieber. Er quälte sich sehr und ich gab alles was ich noch hatte, um es ihm zu erleichtern. Nach drei langen Tagen bekam er rote Pünktchen an Bauch und Beinen und ich konnte mir sicher sein, dass wir es mit dem Dreitagefieber zu tun hatten. Über das anschließende Wochenende erholte er sich so gut, dass ich am darauffolgenden Dienstag zur geplanten Impfung ging. Die Spritze hat er genau wie Frida tapfer weggesteckt, doch schon am Abend haben wir ihn nicht wiedererkannt. Er schien so sehr aus dem Gleichgewicht geraten, dass ich mit ihm litt. Was immer es war, es machte ihn so unausgeglichen, wie ich ihn in seinem kurzen Leben noch nicht erlebt hatte. Er überstreckte sich, wenn er müde wurde und schrie sich so sehr in Rage, dass ich ihn manchmal kaum halten konnte. Alfi fand ebenso wenig einen Weg ihm zu helfen. Als Frida dann ebenfalls das Dreitagefieber bekam und den ganzen Tag über quengelig war und viel weinte, geriet ich schlussendlich ins Wanken. 

Am schlimmsten waren die Nächte. Stillen half, wenn ich es schaffte ihn wirklich schlafend von der Brust ins Bett zu legen. Das war vielleicht bei 5 Versuchen in dreien der Fall. Die anderen zwei weiteten sich zu ein bis zwei Stunden Tragen, Beruhigen und Singen aus. Ich merkte, dass ich nicht mehr bei jedem Weinen sofort reagierte. Es passierte, dass ich irgendwann bei lautem Weinen ins Kinderzimmer ging, um festzustellen, dass Alfi bereits da war. 

Ich erschrak und etwas in mir brach einfach zusammen. Ich habe mein Kind nicht gehört. Ich habe ihn überhört. Ich habe insgeheim aus tiefstem Herzen gehofft, dass er von allein aufhört zu weinen. 

Tagsüber wieder auf mich allein gestellt, musste ich mehrfach für ein paar tiefe Atemzüge aus dem Zimmer gehen. Ich schloss die Tür hinter mir und hörte Janosch weinen, der sich nicht mehr mit mir oder durch mich beruhigen ließ. Dann hielt ich mir die Ohren zu und weinte lautlos mit. Ich kauerte vor ihrer Zimmertür und wusste, dass ich versagt hatte. Ich war der tiefen Überzeugung, dass all die anderen Mütter dieser Erde ihr Kind niemals derart weinen und allein lassen würden. 

WIE ES IST

Mittlerweile ist sie bei uns eingekehrt. Die Ruhe. Soweit man das bei drei kleinen Kindern behaupten kann. Zum einen, weil wir den Ursachen mit Hilfe auf die Spur kommen und sie beheben konnten. Zum anderen, weil wir es lernen anzunehmen, dass nicht jedes Weinen im Keim erstickt werden kann und wir manchmal am meisten tun, wenn wir da sind und es gelassen nehmen.

Auch andere Mütter haben weinende Kinder. Die Grenze dessen, was wir ertragen und leisten können, ist so individuell wie unser Fingerabdruck. Wir reden in unserer Gesellschaft nur nicht mehr gern über das, was uns betrifft und erschüttert. Auf die Frage wie es uns gehe, antworten wir oft ohne mit der Wimper zu zucken mit „Alles gut.“ Doch das ist es nicht. Und das ist total ok. Selbst und vielleicht gerade als Mutter darf ich mich überfordert fühlen, traurig sein, wütend und auch rat- und hilflos. Und mein Kind darf das ebenso und auch weinen, weil das vielleicht einfach mal raus muss. Die Frage, die sich dann stellt ist nur: Wie gehe ich damit um?

WIE ES SEIN SOLLTE

Bin ich überfordert und sehe mich außer Stande zu helfen, dann brauche ich Hilfe, um selbst wieder helfen zu können. Dass Kinder schreien ist nicht nur auf Grundbedürfnisse zurück zu führen und ebenso wenig ein Verweis auf unzureichende mütterliche Qualitäten. Denn es geht hier nicht um Leistung. Es geht um eine Beziehung, um Gefühle und ganz viel Vertrauen. Es geht darum Dinge zu erkennen und anzunehmen, um dann eine Lösung zu finden. 

Es hilft darüber zu sprechen, sich anzuvertrauen, Schwäche zu zeigen und das zurück zu bekommen, was wir unseren Kindern so bereitwillig geben wollen: Verständnis und Liebe. Dazu eignen sich Familie, Freunde, andere Mamas, Nachbarn. Um darüber hinaus die Ursachen für das Schreien zu finden, dass trotzdem du eine gute und bedürfnisorientierte Mama bist, einfach da sein kann, gibt es Anlaufstellen. Einige und sicherlich nicht alle seien hier genannt:

- Schrei-Ambulanzen helfen wohnortnah mit Beratungen

- Schreiberater und Säuglingstherapeuten

- Kinderärzte, Hebammen und Mütterberatungen

Ja, man soll kein Kind rücksichtslos schreien lassen. Denn es geht nicht um Machtdemonstration seitens der Eltern, noch um Manipulation seitens der Kinder. Es geht darum gehört werden zu wollen und zwar auf beiden Seiten.