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Entwicklung auf dem Prüfstand - Was das Extra-Chromosom mit sich bringen kann.

SPZ ist für mich variabel übersetzbar. Von „Sozialinkompetent trotz pädagogischer Zusatzausbildung“ bis hin zu der Erfüllung des eigentlichen Namens „Sozial-pädiatrisches Zentrum“ ist einiges möglich. So waren die zwei Termine im Juni für mich auch mit gemischten Gefühlen besetzt. Denn es ist ein wenig so, als würden wir Tilli und uns auf den Prüfstand stellen, ohne dass uns immer gesagt werden würde, was die Eignungsprüfung ergeben hat.  

Als wir Mitte Juni zum ersten von zwei Terminen fahren, stelle ich mich darauf ein unangenehm zu sein. Das tue ich deshalb, weil ich eigentlich nicht so bin. Ich muss es aber sein, wenn ich in den Dialog gehen will mit Menschen, die einen anderen Wissensstand zur Entwicklung meines Kindes haben als ich. Ich muss Fragen stellen, um zu verstehen, was da gerade passiert und um für mich abzuschätzen, ob wir hier wirklich Hilfe erhalten oder ob Tilli nur ein weiteres Downie-Kind in der Statistik ist.

Insgesamt fast zwei Stunden gehen wir unheimlich viel durch. Greifentwicklung, Laufentwicklung, Sprache, Feinmotorik, Essverhalten, Spielverhalten, wann Tilli in die Kita gehen wird, ob wir bereits weitere Hilfsmittel beantragt haben, wann wir wie wieder arbeiten gehen und wie wir zurechtkommen. Und zum ersten Mal habe ich das Gefühl alles erzählen zu können, ohne mich beweisen zu müssen. Deshalb sage ich ihr auch, dass es mich mehr als nur fordert gute Entscheidungen in Bezug auf Therapien, Hilfsmittel und Anträge zu treffen. Dass ich manchmal nicht weiß, wo vorne und hinten ist und mir oft vorkomme, als hätte ich von der „richtigen“ Förderung meines Kindes keine Ahnung. Dass ich oft denke, ich müsse mehr Wissen, als ich es bereits tue und dass die Informationsbeschaffung rund um Trisomie 21 sich anfühlt, als würde ich ständig etwas verpassen, die falschen Quellen befragen und eigentlich immer nur auf Einzelfallbeschreibungen treffen. Sie hört sich alles an. Sie lächelt milde. Alfi greift öfter nach meiner Hand. Und in diesem stillen Raum, den Tilli währenddessen robbend und erzählend für sich erobert, kommt mir das letzte Jahr unendlich lang vor. „Es wird immer so sein, dass sie neu dazu lernen. Das Themen auf sie zukommen können, aber nicht zwingend müssen. Ich kann ihnen sagen, dass Tillmann auf mich einen wirklich guten Eindruck macht. Natürlich ist seine Entwicklung verzögert, das ist nun mal zu erwarten. Doch er befindet sich im Großen und Ganzen auf dem Stand eines 9 bis 10 Monate alten Babys. Sprache und Feinmotorik sind eher etwas weiter zurück.“ Tilli guckt gespannt auf die Ärztin, während sie das sagt, genau wie Alfi und ich. Ich musste diesmal nicht mal unangenehm werden. Im Gegenteil. Man hat uns ein gutes Gefühl gegeben und eine realistische Einschätzung zu dem abgegeben, was der Stand der Dinge ist. Termin Nummer eins hat uns dem SPZ wieder nähergebracht.

Eine Woche später sind wir wieder auf dem Weg ins SPZ. Diesmal zur logopädischen und pädaudiologischen Untersuchung. Der Termin steht bereits seit langem fest. Wir erhielten eine Einladung per Post mit der Bitte, dass Tilli morgens um 07:30h erscheinen soll. Ungefüttert. Um zeigen zu können, wie er isst.

So sitzen wir also früh im Auto mit einem hungrigen Kleinkind. Kaum angekommen werden wir schon aufgerufen, allerdings nicht zum ersehnten Vorzeigefrühstücken, sondern um Hörtests durchzuführen. Mit Stöpseln im Ohr, was Tilli nur mäßig gefallen hat, dann im freien Schallraum, was er weitaus witziger fand und wieder mit Stöpseln im Ohr und stillhalten. Zumindest war das gefordert. Geklappt hat es Dank Hunger nur suboptimal, aber immerhin hat es nach 5 Versuchen überhaupt geklappt eine Messung durchzuführen. Tillmanns Laune war auf dem Tiefpunkt. „Die nerven mich und geben mir nichts zu essen! Scheißladen!“ Auch wenn er das nicht in vollen Sätzen sagen kann, war das Heulen, Strampeln und Weinen mehr als deutlich. „Entschuldigung, aber dauert es noch lange bis zur logopädischen Untersuchung? Er hat wirklich Hunger“, sage ich der netten Arzthelferin, was unnötig war, da offensichtlich. „Ich gebe sofort Bescheid!“, sagt sie und ward verschwunden. Wir nehmen gerade wieder im Wartebereich platz, als eine blonde Frau mit fröhlichem Gesicht, wehendem Sommerrock und guter Laune vom Ende des Flurs auf uns zukommt. „Auf mich wartet ein hungriger junger Mann, hat man mir gesagt?“ Dankbar gucken wir sie alle drei an. „Na dann kommen Sie mal mit!“ Gesagt, getan. An dem kleinen Besprechungstisch im Raum, packt Alfi im Handumdrehen die Tupperbox mit selbst gemachten Bananenkeksen, einen Joghurt, Löffel und eine Wasserflasche aus. Ich binde Tilli bereits ein Windeltuch um und öffne die Box, als uns die Logopädin unterbricht: „Was ist denn das?“ Verdutzt halte ich inne. „Bananenkekse?“, frage ich verunsichert zurück. „Und das kriegt er zum Frühstück?“ Die Unterhaltung ist irgendwie grotesk, da wir uns ja eigentlich bisher keine unserer Fragen beantwortet haben. „Naja, ich wusste ja nicht ob wir hier Milch für einen Brei warm machen können, deshalb war das die unkompliziertere Variante.“ Sie schmunzelt. „Und wieso sind sie dann bei mir?“ 

Gute Frage. Mittlerweile haben wir uns ja angewöhnt, den Aufforderungen des SPZs einfach Folge zu leisten. Und zum anderen weiß ich, dass das Thema Logopädie irgendwann sowieso angegangen wird. Demnach hat sich mir diese Frage nicht wirklich gestellt. Auch wenn ich weiß, dass Tilli beim Essen eher ganz weit vorn, als auch nur ansatzweise zurück ist. 

Tilli wischt meine Gedanken mit einer wütenden Geste beiseite. Und so beginne ich ihn zu füttern. Währenddessen blättert die freundliche Logopädin in den Berichten und stößt auf den Vermerk:  ´Trinkt nicht richtig.´ Und ja, das ist echt ein Dilemma! Was haben wir nicht bereits alles versucht! Wir könnten einen Handel für einmal benutzte Fläschchen und Trinkbecher aufmachen. Alle Größen, alle Hersteller, viele Designs – ist alles bei uns im Schrank verfügbar. Nachdem Tilli beschlossen hatte, dass er keine Stillmahlzeit mehr braucht, standen wir plötzlich vor dem Problem, dass er Nuckel und Fläschchen verweigerte. Und so mussten wir schnell auf Becher umsteigen, was an sich besser klappte, wobei besser nur hieß: es wurde akzeptiert. Allerdings wurde das meiste wieder hinausgespuckt, in den Becher geblasen oder Tilli verschluckte sich. Ende vom Lied war, dass wir es konsequent versuchten, allerdings wenig Erfolge verbuchen konnten.  

Das beweist Tillmann auch prompt der Logopädin, die es selbst bei ihm versucht und auf die gleichen Probleme stößt. Und das unter erschwerten Bedingungen, denn Tilli hat vom Start in den Tag sichtlich die Nase voll. „Ok, daran müssen wir wirklich arbeiten!“ Alfi und ich gucken uns betreten an. „Da ich sie für fähig halte, würde ich sie gern anleiten und nicht sofort Tillmann in die Therapie schicken. Was halten sie davon?“ Wir gucken erstaunt auf. Sie hält uns für fähig? Nachdem Tillmann einen Becher Wasser auf den Teppich gekippt, der Logopädin einen Becher aus der Hand gefegt hat und seitdem mein Schritt nass ist, ohne das er auch nur einen Schluck getrunken hat? Sie lächelt und wartet auf eine Antwort. „Ja“, sage ich dankbar, woraufhin wir vereinbaren, dass sie uns zumindest für das nächste halbe Jahr anleitet und wir dafür einmal im Monat herkommen müssen. Wir erhalten Tipps für Getränkeeinführung durch Smoothies von fest zu flüssig, für Übungen zum Zähneputzen um die Überempfindlichkeit im Mund abzubauen und vereinbaren realistische Ziele. 

Als wir uns verabschieden, denke ich wir sind für heute durch, doch die HNO-Ärztin will Tilli noch einmal sehen und die Testergebnisse mit uns besprechen. Nach einer kurzen Untersuchung, die er nur widerwillig über sich ergehen lässt, reicht es ihm letztendlich völlig und ich bin mehr als dankbar, dass Alfi dabei ist und mit Tilli draußen spielen geht. Beflügelt von den diesmal so guten Erlebnissen im SPZ sitze ich der Ärztin erwartungsvoll gegenüber. „Leider“, beginnt sie ihren ersten Satz. Bei dem Wort zerbricht etwas in mir. Ich schaue auf die Auswertungsdiagramme die vor uns auf dem Tisch ausgebreitet liegen und verdamme mich für meine schnelle Auffassungsgabe. Ich sehe drei Auswertungsdiagramme vor mir, deren Ausschläge im ersten Feld eine Normkurve zeigen. In den zwei unteren Messbildern sehe ich Tillis Ausschläge, die sich weit unterhalb der Norm bewegen. Das alles passiert in meinem Kopf in Millisekunden und ich höre gerade noch wie sie sagt: „…das muss jedoch nichts heißen.“ Und da ist sie, die Situation in der ich unangenehm sein muss, nicht gelähmt sein darf, nachhaken muss. „Entschuldigung, aber was bitte bedeutet das? Kann Tilli nicht hören?“ Irritiert schaut sie mich an. „Wissen sie, Down-Syndrom Menschen haben auf Grund der Hypotonie oft Schwierigkeiten mit der Belüftung im Ohr. Das kann dazu führen, dass das Hören eingeschränkt funktioniert. Doch dafür gibt es Lösungen.“ Sie öffnet die Schublade ihres Schreibtisches und legt behutsam eine durchsichtige Box vor mir auf dem Tisch. Darin befinden sich winzige tunnelartige Röhrchen aus Gold. Ich muss mich arg zusammenreißen, durchatmen und erneut fragen, da ich das Gefühl habe, mir wurde nicht auf meine Frage geantwortet. „Kann Tillmann hören?“ Erneut schaut sie irritiert auf. Dann schiebt sie die Auswertung vor mir beiseite und eine andere kommt in mein Blickfeld. „Ja, kann er.“ Verwirrt deute ich auf die erste Auswertung und die Ärztin erklärt mir hörbar zum zweiten Mal, dass Tillmann im freien Schallfeld gute Hörergebnisse gezeigt hat. Allerdings zeigt seine Messung im Druckbereich nicht so gute Werte, was allerdings nichts Schlimmes heißen muss. „Denn leider sind diese Messungen in einem so frühen Stadium nicht immer zu 100% korrekt. Wir werden das regelmäßig beobachten. Sollte es je nötig sein können diese Goldröhrchen die Belüftung im Ohr sichern. Allerdings würde ich vermeiden operativ einzugreifen, wenn es nicht zwingend erforderlich ist.“ Ich muss mir auf die Lippe beißen, um nicht loszuheulen, weil ich mir schon das schlimmste ausgemalt hatte. Sie lächelt mich an und drückt kurz meine Hand. „Ich gebe ihnen noch einen neuen Termin mit und dann sind sie für heute durch.“ 

Als ich aus der Tür trete stehen da ein sichtlich geplagter Papa mit einem sichtlich genervten Kleinkind. „Alles gut?“, fragt mich Alfi. „Wawawa-amamam-pa-daaaaaaaa“, platzt es aufgeregt aus Tilli raus. Ich muss lachen. „Alles gut soweit. Fahren wir nach Hause.“ Und Tilli nickt als hätte er mich verstanden. Es ist wie es ist. Wir müssen die Dinge nehmen wie sie kommen. Wenn sie kommen.  Und bis dahin bin ich froh, dass das SPZ langsam unser Freund ist. Vielleicht nicht immer der auf den ersten Blick sympathischste, doch immerhin einer der dir zur Seite steht.  

Bis bald,

Eure Ini