Ohne Worte - Vom Suchen und Finden der Sprache

Plötzlich ist sie real, die Herausforderung des Sprechen Lernens. Die ganze Zeit war sie schon da, hinkte aber hinter der Hürde „Laufen“ her. Ich habe es oft erwähnt, dass es mir Angst macht, Tilli lange Zeit nicht verstehen zu können. Aus vielerlei Gründen. Viel schlimmer muss es jedoch auf der anderen Seite der Sprache sein.

Tilli versteht uns zu schätzungsweise 90% korrekt. Wie schlimm muss es also sein, wenn dein Gegenüber unentwegt auf dich einredet, dir verbal Dinge vorschreibt, sie dir verbietet, dir scheinbar nicht richtig zuhört oder dich nicht ernst nimmt und deinen Kummer nicht mal ansatzweise versteht? Er kann mir bei einem ungesehenen Sturz nicht sagen, ob oder was genau ihm wehtut oder in Ansätzen was passiert ist. Selbst bei einfachen Bauchschmerzen ernten wir Weinen. Dass ihn der Bauch ärgert, kann er nicht in Worte verpacken, noch zeigt er einfach auf das entsprechende Körperteil, denn er geht vermutlich nicht davon aus, dass wir es verstehen. Hat er Hunger oder Durst und wir sind nicht in der Küche oder er sieht nichts Vertrautes, dass das Bedürfnis befriedigen könnte, gibt es wieder nur eine Möglichkeit: Unzufriedenheit und Frust.

Wenn er mir dann schluchzend in den Armen liegt, weil die Welt zum Himmel schreiend ungerecht ist, begreife ich annähernd wie schlimm es sein muss, wie groß die Diskrepanz zwischen seiner unbestreitbaren Cleverness und einem Unvermögen ist, dass wir ihm nicht einfach nehmen können. Es ist nicht wie beim Laufen, wo wir ihn zur Not tragen konnten. Sprache ist vielmehr als nur das Überbrücken von Distanz. Sie ist Ausdruck unserer Selbst, eine Verbindung zum Außen und etwas das wir aktiv nutzen können, um unser es zu beeinflussen. Tilli bleibt das lange verwehrt, wenn wir ihn auf diesem Weg nicht unterstützen.

Doch wie funktioniert das eigentlich mit der Sprache? Kinder lernen durch beobachten, Interaktion, Nachahmung und gewünschte Reaktionen von außen. Es ist eine Frage der Zeit - und der Chromosomen. Denn tatsächlich ist es für Tilli schwerer. Sein Mund und seine Zunge gehorchen ihm nicht einfach so. Es erfordert viel Können und Anstrengung für ihn. Noch dazu kann das Wort im Kopf schon zu 100% korrekt vorliegen, kommt aber nicht gesprochen bei uns an.

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Was können wir also tun? Wir informieren uns, wir tauschen uns mit anderen aus und nach und nach, ergibt sich ein Sammelsurium aus Methoden, Therapien, Herangehensweisen und Einschätzungen. Und egal mit was du anfangen wirst, du wirst immer jemanden treffen, der bei seinem Kind noch etwas ganz anderes genutzt hat, der andere Experten kennt, andere Bücher liest, sich anders damit befasst. Ich würde gern davon sprechen, dass es ein Luxusproblem sei und wir nur wählen müssten, was wir probieren wollen, weil alle Wege ja bekanntlich nach Rom führen. Doch wenn das Überangebot an Möglichkeiten, wirklich das Problem wäre, hätten wir keines.

Sprache ist unfassbar individuell. Jedes Kind hat andere Begabungen, Interessen, ein anderes Umfeld, eine unterschiedliche Auffassungsgabe. Wo setze ich also mit Tilli an, ohne mich gleich im nächsten Augenblick zu fragen, ob wir so lernen uns zu verstehen? Führe ich mir das vor Augen, ist es ebenso frustrierend für mich wie für ihn. Tilli ist aber derjenige, der Hilfe braucht. Er braucht sie nicht nur ein bisschen, nicht als halbherzigen Versuch, sondern um Sprechen zu lernen. Schließlich ist er weder taub noch stumm. 

Immer wieder beobachte ich Tilli, so gut es unser neuer Alltag zulässt. Nach seiner OP haben ihm die Paukenröhrchen sehr dabei geholfen besser zu hören. Das ist ein Anfang. Ein wichtiger. Wo er vorher vielleicht nur die sich bewegenden Lippen gesehen hat, erschließen sich neue Töne, wie „p“, „f“, „sch“, „s“. Ich ertappe Tilli manchmal dabei, wie er sie vorsichtig – und für seine Verhältnisse ungewohnt sachte – ausprobiert. Wie er sie in seinem kleinen Mund dreht und wendet, zaghaft flüstert und doch nicht immer zum gewünschten Erfolg kommt. Dann lässt er sie wieder fallen, diese kleinen Silben und Töne, die Bausteine für eine ganz neue Erfahrung sein könnten. Stattdessen kommt er zu uns, zeigt auf Gegenstände, wiederholt Mimik und Gestik im Zweifelsfall zigmal, bis wir es endlich verstehen. Womit wir beim eigentlichen Knackpunkt ankommen. Wir sind es, die Brücken bauen müssen, für diesen cleveren kleinen Jungen, der im Kopf vielleicht vieles parat hat, was wir nicht richtig zuzuordnen wissen. Wir brauchen eine Form der Verständigung, die Tilli ebenso möglich ist wie uns. 

Nächste Woche geht es weiter für euch…

Eure Ini