Darf`s ein bisschen mehr sein? & Antworten auf nicht gestellte Fragen // #2

Als damals das Wort Gentest zum ersten Mal auf der Intensivstation, auf der Tillmann seit 5 Tagen beatmet und ständig untersucht wurde, zur Sprache kam, da waren wir perplex. Nichts hatte während der Schwangerschaft Ausschlag für Befürchtungen dahingehend gegeben, wobei wir auf Pränataldiagnostik zum Ausschluss einer Trisomie bewusst verzichtet haben. 

Wenn ich mich daran erinnere, dann läuft es mir noch heute kalt den Rücken herunter. Ich sehe vor mir, wie Alfi und ich getrennt voneinander googlen um dann abends im Bett liegend zuzugeben, dass wir es getan haben. Und wenn du von den Ärzten noch nichts weiter gesagt bekommen hast, dir qualitativ hochwertige Fachlektüre fehlt, dann erschlägt dich Wikipedia mit Aussagen, die dir total surreal vorkommen. 

Wir haben sieben unterschiedliche Formen der Trisomie gefunden. Davon fielen manche raus, da Tilli es dann mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht bis zur Geburt geschafft hätte. Andere waren ob der geringen Lebenserwartung und der voraussichtlichen körperlichen Einschränkungen, OP-Bedarfe und Schmerzen ein Schlag ins Gesicht und dennoch nicht auszuschließen. Zumindest so lange der Mensch im Labor noch nicht nachgezählt hatte, welches Chromosom verdreifacht vorliegt. Immer wieder glichen wir Symptome während der Schwangerschaft, bei der Geburt, und visuelle Marker mit unserem neugeborenen Sohn ab. Wir hatten Angst. Angst, dass dieses Kind uns zu schnell wieder genommen wird, dass er Schmerzen leidet und ständig unters Messer muss.  

Doch wir hatten Glück. Unser Glück ist mindestens so unbegreiflich wie selten. Nur jedes 700 lebendgeborene Kind hat Trisomie 21, oft verbunden mit organischen Einschränkungen und OP-Bedarf. Für uns war augenblicklich alles neu und anders. In unserem ganzen sozialen Netzwerk existiert sie nicht. Die Trisomie. Zumindest auf den ersten Blick. Doch nachdem wir es erst Familie, dann engen Freunden und schließlich jedem der es wissen wollte, gesagt haben, ist sie zu erahnen. Die Anwesenheit eines jeden 700 Menschen, der eben ein bisschen anders ist.

Wie anders das jedoch ist, dabei konnten uns Aussagen von Freunden, deren Freundin, dessen Onkel eine Cousine hat, die, na ihr wisst schon, Kinder hat, die angeblich ein Down-Kind in ihrer Klasse haben, leider nicht helfen. Unsere Bilder im Kopf hatten entweder etwas mit Down-Syndrom in Film und Fernsehen zu tun, oder mit Menschen, die ein eigenartiges Bewegungsbild hatten, nicht richtig sprechen konnten, denen dauerwährend der Mund offensteht und die in Behindertenwerkstätten arbeiten und in Einheiten für betreutes Wohnen leben. 

Die Sache ist die, es besteht, und das offenbar nicht nur bei uns, bei vielen ein Bild im Kopf, das überholt ist. Das uns von Down-Syndrom Menschen vorschwebt, die in unserem eigenen Alter oder auch älter sind. Diese Menschen sind in einer Zeit geboren worden, in der es mit Scham und Unwissenheit umzugehen galt, und in der die Möglichkeiten von Frühförderung und Physiotherapie noch weit von dem entfernt waren, was sie heute für Menschen mit Entwicklungsstörungen erreichbar machen können. Ganz davon ab, dass die Forschung noch verhältnismäßig jung ist, was diese Erbmutation betrifft.

Zurück zu uns. Wir hatten für uns selbst nach 8 Tagen eine innere Gewissheit erlangt, die sich mit Erhalt der Ergebnisse des Gentests an Tag 10 deckte. Und zu Beginn so wie heute noch, ist der Unterschied zu anderen Babys für mich marginal. Ja, Tillmann robbt erst seit Ostern, und ihm fehlt sicherlich noch lange die Kraft um zu krabbeln. Er wird in diesem Monat 1 Jahr alt. Damit hinkt er hinterher, jedoch haben wir selbst in unserer PEKiP Gruppe Babys die nicht viel weiter sind. Doch ich mache mir nichts vor: Viele Dinge kosten Tilli und uns nicht nur mehr Geduld, sondern auch Training, Therapie und die dafür nötige Kraft. 

Als wir damals aus dem Uniklinikum entlassen wurden, gab man uns allerhand Arbeitsaufträge mit. Einen Physiotherapeuten mit entsprechender Eignung finden, einen Integrationskitaplatz suchen, uns beim SPZ vorstellen, mit unserer Kinderärztin die Folgeuntersuchungen des Herzens, der Hüfte, des Schlafs, des Hörens und naja, eigentlich aller möglicher Dinge die man untersuchen kann, einzutakten. In meinem Kopf legte sich ein Schalter um, der zum Funktionieren. Und das tat ich. Ich machte alles, von dem ich glaubte es zu müssen oder zog es in Erwägung. Ich schaltete von Mutter auf Projektmanagement, ließ das Wochenbett links liegen und übersprang den Babyblues. Bis ich zur ersten Stunde unserer Physiotherapie ging.

Ich wurde von unserer Physiotherapeutin in einen der Behandlungsräume gebracht und sollte Tillmann schon mal bis auf den Body ausziehen. Klar, Aufgabe erkannt. Wird erledigt! Ich packte mir also den kleinen Mann, zog ihn routiniert aus, wickelte ihn in seine Kuscheldecke und wartete. Nach 5 Minuten öffnet sich die Tür und unsere Therapeutin kommt wieder. Als sie auf mich zusteuert, will ich schon reflexhaft mein Kind übergeben, doch sie lächelt nur kurz, geht an mir vorbei und setzt sich im Schneidersitz auf den Boden. Dann schaut sie mich an. „Erzähl mir erstmal, weshalb ihr hier seid“, fordert sie mich auf. Hab ich mich verhört? Na wegen Tilli, damit es ihm gut geht, oder etwa nicht? „Tillmann hat Trisomie 21“, antworte ich leicht irritiert. „Ja, das kann ich sehen. Doch weswegen seid ihr hier?“ „Ich, ähm, naja, weil wir sollten uns laut Uniklinik Entlassungsbrief jemanden suchen, der die Therapien Bobath und Vojta beherrscht und für uns dauerhaft einen Platz hat.“ Dann rattert es in meinem Hirn und ich antworte nochmal: „Tillmann soll möglichst selbstbestimmt durchs Leben gehen können, weißt du? Also nicht, damit wir uns nicht kümmern müssen, sondern, damit er, soweit möglich, selbst bestimmen kann.“ Sie nickt. Ich nicke bekräftigend mit. „Weißt du, es ist so: ich habe mehrere Down-Syndrom Patienten, die ich schon über Jahre begleite. Es gibt die fitten Downies und solche die manche Meilensteine nie erreichen werden. Ich kann dir nichts versprechen, egal wie sehr wir alle, und damit meine ich in erster Linie dich, daran arbeiten. Ist dir das klar?“ Ich schlucke den Kloß im Hals runter und schiebe all meinen Pragmatismus beiseite. Sie nickt um das zu bekräftigen und dann fangen wir an.

Zu Hause ist mir danach eines sehr klar geworden. Ich muss es nehmen wie es kommt und geben was ich kann. Erwarten darf ich im Gegenzug nichts. Jedes Geschenk mit Freuden annehmen dafür umso mehr. Und ich hab angefangen mich mit aktuellen Jugendlichen mit Down Syndrom zu beschäftigen, damit ich mein Bild schärfen konnte und eine veraltete Vorstellung einer Behinderung einem modernen Menschsein weichen konnte.

Mein liebstes Video dazu entstand als Aktion für den Welt Down Syndrom Tag. Ich kann es bis heute nicht schauen, ohne zu weinen. Weil es mich von Herzen glücklich und stolz macht, dass ich Tillmann bekommen durfte.

https://www.youtube.com/watch?v=Ju-q4OnBtNU 

Antworten auf ungestellte Fragen:

Willst du noch ein Kind und würdest du dich dann Tests unterziehen?

Ja, wir möchten noch mehr Kinder. Und wir haben den Luxus das auf Grund der Kühlschrank-Methode planen zu können. Ob es dann klappt, ist jedoch etwas ganz Anderes. Sollte es wieder erfolgreich sein, würde ich mich entgegen meines Entschlusses bei der ersten Schwangerschaft für Pränataldiagnostik entscheiden. Zumindest für die nicht invasiven Methoden. Nicht, weil sich meine Einstellung zu Behinderung geändert hat oder ich es nicht nochmal so nehmen würde wie es kommt. Doch wir waren naiv und ich würde beim nächsten Mal lieber wissen wollen, was auf mich zukommt. Dann würde ich auch eine andere Entbindungsklinik wählen, die für mein Kind die bestmögliche Betreuung absichert, wenn Besonderheiten vorliegen. Einfach weil die zweifache Notverlegung binnen 24 Stunden für uns alle ein Verlust an Zeit, Nähe und Kraft war.

Dennoch war es bei der ersten Schwangerschaft, die für uns richtige Entscheidung nicht zu testen und so die Schwangerschaft genießen und der Geburt sorgenfrei entgegen schauen zu können. Ein Kind zu bekommen ist schließlich nach wie vor ein Geschenk und darauf sollte man sich in erster Linie freuen. Und das von ganzem Herzen.

Eure

Ini (@fraeulein_i)


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Vor einiger Zeit bin ich über das Profil von Ini, Alfi und Tilli gestolpert und war irgendwie berührt. Ich habe nach einiger Zeit Ini einfach angeschrieben und gefragt, ob ich einen Artikel über Tilli und seine Geschichte schreiben darf. Mehrfach habe ich einen Anfang für die Story gesucht und wurde nie fündig. Das habe ich Ini reumütig gebeichtet und sie hatte Verständnis und so haben wir die Idee für diese Kategorie entwickelt. In Zukunft wird Ini 1x im Monat für euch aus ihrem Alltag mit Tilli berichten. Es wird keinen roten Faden geben und muss es auch nicht! Was es aber geben wird ist die Wahrheit und alles was Ini bewegt. On top gibt Ini immer eine Antwort auf eine Frage die eigentlich nie gestellt werden darf. Wir wünschen euch viel Spaß - #herzensangelegenheit