Darf`s ein bisschen mehr sein? - Antworten auf nicht gestellte Fragen

Wie stellt man sich vor, wenn man sich nicht nur auf Namen, Alter und Anlass reduzieren will? Keine Ahnung, also: ich bin Ini, derzeit entspannte 34 Jahre jung, die Frau von Alfi und die Mutter von Tillmann. Unserem Sohn mit dem einen Gen mehr als nötig gewesen wäre. 

Tilli ist im Mai 2016 unerwarteter Weise mit dem Down-Syndrom und somit der Trisomie 21 zur Welt gekommen. Von einem Herzfehler oder anderen Begleiterscheinungen sind wir verschont geblieben. Er ist ein Überraschungspaket, denn mit welchen Entwicklungsschritten wir wann und in welcher Ausprägung zu rechnen haben, kann niemand vorhersehen. Seine Behinderung ist für uns Alltag und daran lassen wir jeden teilhaben. Wieso? Weil oft die Normalität der Masse dem Besonderen im Weg steht. Wenn wir also helfen können durch unsere Erfahrungen dem unverblümten Umgang mit einem Handicap, das keines sein muss oder dem ehrlichen Teilen von Ängsten und Sorgen die Welt für das dritte Chromosom 21 offener und weniger hinderlich zu machen, dann haben wir viel erreicht. Und das nicht nur für Tillmann, sondern vielleicht auch für viele andere, die es weitaus schwerer haben als wir.

Antworten auf nicht gestellte Fragen:

Mama eines behinderten Kindes zu sein ist nicht schwerer als es für ganz normale Kinder zu sein. Jedes Kind bringt Dinge mit sich, die uns zum Umdenken zwingen und uns über uns hinauswachsen lassen. 

Trotzdem ist das meist die erste Frage zum Handicap: „Das muss doch unheimlich anstrengend sein, oder?“

Ja, wenn ich das jetzt ausschließlich auf die Extras beziehe, die es so mit sich bringt, dann vielleicht schon. Wir müssen einmal die Woche zur Physiotherapie, was nicht gerade ein Zuckerschlecken ist, denn es ist, wie das Wort schon kundtut, eine Therapie. Es geht da nicht um spielerisches Anbahnen von Fähigkeiten oder meine Überambitionen in Richtung Frühförderung. Wir bekommen die Physiotherapie voraussichtlich ein Leben lang. Jetzt geht es darum, dass Tillmann motorische Meilensteine erreichen kann, keine Lieblingsseite und somit eventuelle Fehlstellungen ausprägt. Später wird es darum gehen ihn im Bewegungsablauf zu unterstützen, seine Selbstständigkeit zu fördern und Blockaden zu verhindern oder aufzulösen. Er erhält Bobath und Vojta Therapie. Ich werde tunlichst vermeiden mich hier darüber auszulassen, weil ich schon jetzt panische Blicke beim Wort Vojta auf mir spüre. Da ich allerdings selbst eine sportliche Ausbildung durchlaufen habe, erachte ich diese Möglichkeiten als fördernd und bin dankbar dafür, dass wir eine einfühlsame wie pragmatische Physiotherapeutin an der Hand haben, die all ihr Wissen zu Tillis Wohl einsetzt.

Ansonsten gehen wir derzeit einmal wöchentlich zum Babyschwimmen, was nur eine momentane Alternative ist, bevor die Einzeltherapie im Wasser fortgeführt wird, wo es dann wieder konzentrierter und ergebnisorientierter für Tillmann weitergeht. 

Einmal im Monat kommt eine Heilpädagogin zu uns nach Hause und „spielt“ mit Tilli um seine Sensorik anzuregen und seine Entwicklung für weitere nötige Maßnahmen innerhalb der Frühförderung im Blick zu haben.

Alle 3 bis 6 Monate werden wir derzeit noch im SPZ (Sozial-Pädiatrisches Zentrum) vorstellig. Hirnstrommessung, Standardentwicklungstests, Beurteilung der Motorik und des Gesamteindrucks stehen hier auf dem Plan. Darüber hinaus erhalten wir hier Ansprechpartner für die mögliche Beantragung von Hilfsmitteln, Behindertenausweisen und Pflegestufen, sowie Ansprechpartner und Kontakte für Beistand in Rechtsfragen, falls es mal nötig sein sollte.

Ach je, jetzt klingt es doch ganz schön viel und dabei habe ich nicht mal erwähnt, dass wir alle Nase lang Anträge ausfüllen, uns um einen Integrationsplatz in einer Kita bemühen und mögliche nächste Schritte auf dem Schirm haben müssen. 

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Wieso tun wir das alles? Das hat zweierlei Ausrichtung: Für Tillmann wünschen wir uns, dass er sein Leben so selbstbestimmt und eigenständig wie möglich leben kann. Dazu tragen wir bei wo wir nur können. Es ist nicht so, dass wir durch all das ein möglichst normales Kind wollen oder dafür sorgen, dass wir ihn irgendwann mal los sind. Im Prinzip wünschen wir uns das, was sich alle Eltern wünschen. Ein glückliches Kind, dem alle Möglichkeiten offenstehen. Andererseits ergibt sich vieles von ganz allein. Manchmal wirst du von Institution zu Institution einfach weitergereicht. Einen Leitfaden wie Tillmanns Entwicklung so abläuft gibt es nicht. Den hat aber auch niemand sonst für sein Kind.

„Habt ihr gar keine Angst vor der Behinderung, oder dem was sie vielleicht mit sich bringt?“

Oh doch, die haben wir. Wir sind auch nur Menschen. Und wenn ich auf Instagram Geschichten erzähle die Mut machen, dann weil ich darum weiß, dass man auch Momente hat in denen man sich der Aufgabe nicht gewappnet fühlt. Nach der ersten Wassertherapie bin ich mit Tillmann nach Hause gefahren, der selig im MaxiCosi schlief. Klingt toll, oder? Die Wahrheit ist: Ich habe geweint. Bitterlich. Er hat eine halbe Stunde im Wasser gekämpft. Mit sich, mit neuen Eindrücken, mit unserer Physiotherapeutin und mit der Anstrengung. Er hat geschrien und es war erschütternd. Ich konnte ihn nicht beruhigen. Das einzige was ich tun konnte war da sein. Mit ihm durchhalten. Ich weiß noch wie ich nach dem Duschen schweißgebadet war, weil ich nicht fassen konnte, dass ich das meinem Kind antue. Im Auto sackte ich sekündlich mehr in mir zusammen, bis ich einfach am Straßenrand anhielt und heulte. ´Wie sollen wir das ein Leben lang schaffen? Was wenn es nie aufhört schwer für dich zu sein? Und was, wenn ich dir keine Hilfe bin?` Es hat mich zerrissen. Doch schlussendlich waren irgendwann alle Tränen geweint und die nächste Wassertherapie stand an. Nur noch 10 Minuten Weinen, dann nur noch mal Momente und heute bekomme ich ihn fast nicht mehr aus dem Wasser. 

Mit der Angst ist das so eine Sache. Sie setzt sich uns in den Kopf und ist in der Lage starke Bilder zu erzeugen, die glaubwürdiger sein können als jede Hoffnung. Um ihr gegenüber zu treten gibt es nur eins: Stell dich der Realität und sieh, ob deine Szenarien wirklich eintreten. Tun sie es nicht, dann freu dich. Tun sie es doch, dann findet sich trotzdem ein Weg damit umzugehen. 

Meine größte Angst steht mir noch bevor. Sie hat mit dem Tillmann in meinem Kopf zu tun, der 5, 10 und 15 Jahre alt ist. Ich habe Angst, dass er nicht richtig sprechen lernt und ich ihn nicht richtig verstehen werde oder er daran verzweifelt sich nicht richtig zum Ausdruck bringen zu können. Es gibt Tage an denen muss ich mich arg zusammenreißen, um mich nicht dem ohnmächtigen Gefühl hinzugeben, das da auf mich zurollt, wenn die Bilder in meinem Kopf mal wieder stärker sind als die Realität. Letzten Endes bringt mich diese Angst nicht weiter und ich verpasse im Ernstfall die vielen Momente in denen wir miteinander reden ohne einen Ton von uns zu geben.

„Hast du schon immer einen Draht zu behinderten Menschen gehabt?“

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Nein! Ein sehr deutliches. Ich bin in Bielefeld aufgewachsen. In meiner Heimatstadt gibt es die Bethel Werke. Behinderte Menschen gehörten also vielfach zum Stadtbild dazu. Trotzdem wurde ich mit der peinlichen Berührtheit meiner Mutter gegenüber Behinderungen groß. Ich bin von Natur aus neugierig. Das wurde jedoch meist mit „Starr da nicht hin!“, „Sprich ihn nicht an!“ oder ähnlichem quittiert. Mit mir wurde also oft ein großer Bogen um Andersartigkeit gemacht. Und da ich ein recht folgsames Kind war, habe ich das nicht in Frage gestellt und einfach weggeguckt. So halb zumindest. Ich hätte sehr gern behinderte Menschen gefragt, wie sie alles so hinbekommen im Alltag. Ich erinnere mich auch, dass ich mal freiwillig Braille Schrift lesen lernen wollte, weil es mich maßlos beeindruckt hat. Ebenso hat auch Gebärdensprache eine Faszination auf mich ausgeübt. Es gibt witziger Weise auch einige verrückte Begegnungen, die ich mit Menschen mit Behinderung hatte. Oft haben sie dazu geführt, dass ich mich geschämt habe, weil ich sie auf etwas reduzierte, was für sie selbstverständlich ist. 

Am meisten berührt hat mich allerdings das Telefonat mit einer Freundin: „Ini, ich muss dir etwas sagen. Ich weiß gar nicht wie ich anfangen soll.“

Ich konnte ihre Verzweiflung fast greifen und ich hörte wie ihre Stimme gezittert hat. „Sag es einfach. Wir reden drüber, wie über alles andere.“ Ich höre eine Pause und vermute ein Nicken, dann warte ich. „Du weißt, dass ich Tilli lieb habe, oder?“ Ich lache. „Ja.“ „Weißt du, ich habe manchmal so Angst vor der Behinderung, weil ich… Oh Gott, das kann ich nicht sagen.“ Ich spüre schon, dass jetzt etwas kommt, dass uns beiden weh tut. Doch weil das mit der Wahrheit manchmal so ist, muss es halt einfach raus. „Pass auf, ich verspreche, ich werde dich nicht für das verurteilen, was du jetzt sagst. Klingt das fair?“ Schweigen. Dann folgt ein leisen „Ja, ist gut.“ Sie holt tief Luft. „ich habe doch immer so eine Macke, dass ich mich vor manchen Sachen ekel.“ Ich schlucke und hole ebenfalls tief Luft. „Ich habe immer so Angst, dass Tilli mal sabbernd vor mir sitzt und dass ich mich dann davor ekeln würde. Das wäre schrecklich und ich schäme mich unendlich dafür, Ini!“ Sie kann nur mit Mühe Tränen zurückhalten, während ich am anderen Ende schmunzeln muss. „Brauchst du nicht. Oder ich muss mich auch schämen. Und weißt du, Sabber kann man wegwischen.“ Dann lachen wir beide aus tiefstem Herzen.

Tatsache ist: Behinderungen sind vielfältig. Manche erscheinen uns abnorm, andere berühren uns, manche rufen vielleicht sogar Ekel in uns hervor, wiederum andere setzen uns in Bewunderung für Dinge, die durch keine Behinderung aufzuhalten sind. Was sie verbindet ist, dass es sich um den Teilbereich eines Menschen handelt. Eines großen Ganzen, dass wir lieben und achten können und dem wir mit Menschlichkeit begegnen sollten. 

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Ich muss sagen, das Tillmanns Behinderung nicht sichtbar ist für mich. Was ich jedoch an ihm und uns feststelle, ist, dass er in der Lage ist Dinge anders aufzunehmen als andere. Manchmal glaube ich, dass Downies dadurch, dass sie nicht mit dem Tempo unseres Leistungsdrucks mithalten können, für andere Dinge mehr Aufmerksamkeit haben als wir. Tillmann scannt jedes Gesicht, das ihm neu ist. Anders als andere Babys in seinem Alter kann er sich noch nicht durch robben oder krabbeln die Welt zu eigen machen.  Spielzeuge sind dadurch oft weniger interessant als Mitmenschen. Und er kann Emotionen dadurch oft schneller deuten als gleichaltrige Kinder und zeigt Mitgefühl. Das klingt irre und manchmal frage ich mich auch, ob ich mir das einbilde, doch es bestätigt sich in den Menschen mit Down-Syndrom die ich bereits kennen lernen durfte.

Ich mag es zwar nicht gern hören, wenn Menschen auf die Information, dass Tilli das Down-Syndrom hat mit: „Das sind aber so glückliche und liebevolle Menschen!“, reagieren. Was allerdings auch eher daran liegt, dass es meist eine verzweifelte Floskel ist, weil man sich nicht traut uns Fragen zu stellen. Recht haben sie dennoch. Das ist vielleicht das Extra Chromosom. Da zum lieb haben. Vielleicht könnten wir alle das manchmal gebrauchen.

Eure

Ini (@fraeulein_i)


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Vor einiger Zeit bin ich über das Profil von Ini, Alfi und Tilli gestolpert und war irgendwie berührt. Ich habe nach einiger Zeit Ini einfach angeschrieben und gefragt, ob ich einen Artikel über Tilli und seine Geschichte schreiben darf. Mehrfach habe ich einen Anfang für die Story gesucht und wurde nie fündig. Das habe ich Ini reumütig gebeichtet und sie hatte Verständnis und so haben wir die Idee für diese Kategorie entwickelt. In Zukunft wird Ini 1x im Monat für euch aus ihrem Alltag mit Tilli berichten. Es wird keinen roten Faden geben und muss es auch nicht! Was es aber geben wird ist die Wahrheit und alles was Ini bewegt. On top gibt Ini immer eine Antwort auf eine Frage die eigentlich nie gestellt werden darf. Wir wünschen euch viel Spaß - #herzensangelegenheit